Mein Unfall und seine Folgen

by Sarah

Eine Sekunde, die den Verlauf deiner vermeintlich geplanten nahen Zukunft völlig Kopf stellt. Ich hab sie erlebt, diese eine Sekunde. Im vergangenen November hat mich eine Unachtsamkeit stolpern lassen, hinein in Wochen und Monate der Abhängigkeit und Ungewissheit, hinein in viele Learnings. Davon, welche guten Folgen ich aus meinem Unfall ziehe: 

Welcher Unfall, was ist passiert?

„Ich geh nochmal vor die Tür, kurz an den Hafen, heute fährt die HVV Switch Fähre mit Moonbotica durch den Hafen – das wollte ich vielleicht für ein Hamburgvideo aufnehmen“. Mit diesen Worten hab ich mich vorerst das letzte Mal für lange Zeit auf zwei Beinen von meinem Partner verabschiedet, habe die Tür hinter mir zugezogen, und bin nur 10 Minuten später auf Brücke 1 an den Landungsbrücken ein paar Stufen hinuntergepurzelt. 

(Spoiler: das Hamburgvideo ist dann ganz anders geworden)

Bis heute kann keiner sich erklären, wie ich mir keine weiteren Verletzungen zuziehen konnte. Ich bin wohl einfach mit ein bisschen Glück auf der Treppe gestolpert, so dass ich mir im Nachhinein „nur“ folgende Verletzungen zugezogen habe:

  • Außenbänder und Innenbänder beidseits gerissen
  • Syndesmose rechts nicht mehr intakt
  • Fersenbeinbruch links
  • Sprunggelenke beidseits gestaucht 
Zeitstrahl unfall

Die Zeit bis zur finalen Diagnose war eine Odyssee. Rückblickend habe ich durch meinen späten Arztbesuch Zeit verschwendet, heute ärgert mich das sehr. Zwei Wochen vor Weihnachten, als Deutschland über stark steigende Coronazahlen diskutierte, habe ich erfahren, dass ich in all dem Pandemietrubel an beiden Beinen operiert werde und auch mindestens 7 Tage im Krankenhaus bleiben muss. Psychisch gesehen war das der herausforderndste Tag, zum einen hatte ich nach Wochen das erste Mal Gewissheit, was alles „kaputt“ in meinen Beinen ist, gleichzeitig machte mir das aber auch deutlich, was noch folgen würde. 

Folgen des Unfall hinsichtlich Zusammenhalt – Unerwartet nochmal “Kind” sein

Als ich aus dem Krankenhaus kurz vor Weihnachten entlassen wurde, mit zwei Lagerungsschienen um die Füße gewickelt und im Rollstuhl, so wie der Anweisung, keines der Beine auch nur ansatzweise zu belasten vorerst, hat mein Partner mich erstmal gut 600km nach Hause gefahren zu meinen Eltern. 

Ich komme gerne „nach Hause“ in mein Elternhaus. Für gewöhnlich aber mit der Flexibilität und Freiheit, gehen bzw. Fahren zu können, wenn nach ein paar Tagen der Wiedersehensfreude klar wird, dass aus einem Haushalt längst zwei geworden sind. Diesmal wusste ich, dass ich meinen Eltern zwar nicht „zur Last fallen“ würde, aber doch stark auf sie angewiesen sein würde. 

Glücklicherweise sind beide nicht mehr Vollzeit berufstätig, so dass immer jemand für mich da sein konnte. “Da sein” bedeutete in dieser Zeit sehr vieles. Essen kochen, mir alles mögliche bringen, mich von einem Raum in den anderen bringen und: mich jederzeit aufs Klo fahren. Mein bester Freund für einige Wochen war der Klostuhl. Etwas schlanker und leichter als ein Rollstuhl, aber mit Loch in der Mitte, so dass man mit dem Stuhl über eine Toilette rollen kann. 

Was sich witzig anhört, war besonders für mich eine Herausforderung. Ständig jemanden rufen/bitten zu müssen, mir zu helfen. Ich bin gerne selbstständig und bin niemand, der sich gerne etwas hinterhertragen lässt. Ich musste lernen, nach Hilfe zu fragen und sie anzunehmen. Und mich auch in der aktuellen Situation nicht weniger zu lieben. Ich habe in der Zeit vieles gefühlt, aber mich selbst nicht sonderlich begehrenswert, sexy, geschweige denn weiblich. Auch das war eine Herausforderung, etwas, was ich lernen musste, anzunehmen.

Meine Eltern lernten wiederum, sich nochmal richtig um ihr Kind zu kümmern. Man darf jemanden, der beide Beine operiert bekommen hat, ja auch nicht anmotzen. Ich glaube, besonders das war nach dem 13. „Paaaapa“ am Tag besonders für ihn gar nicht so einfach. 

Meine Angst oder mein Respekt vor der langen Zeit Zuhause als kleiner Pflegefall waren unbegründet. Gemeinsam haben wir in der intensiven Zeit Routinen entwickelt, mein Papa hatte schnell den Dreh mit dem Rollstuhl raus, meine Mutter beispielsweise den Verbandswechsel. So ungewöhnlich unser Weihnachtsfest, sowie auch Silvester zum einen pandemie- aber zum anderen auch gesundheitsbedingt war, so besonders und intim war es nach meinem Empfinden aber auch. Die Erfahrung machen zu müssen, aber auch zu dürfen, ein Elternhaus zu haben, das mich auffängt in so vielerlei Hinsicht, möchte ich trotz allem nicht missen. 

Auswirkungen des Unfalls auf meine Beziehung(en)

Die vermutlich größte Stütze war und ist mein Partner an meiner Seite. Noch als ich nach dem Sturz in den Armen eines fremden Joggers lag, bis oben hin voll mit Adrenalin, irgendwo zwischen Übelkeit und Ohnmacht, habe ich ihn über Lautsprecher angerufen und gebeten, schnell zu mir zu kommen.

Wegen Corona durfte er nicht im Krankenwagen fahren. Generell sollten wir uns ein paar Wochen pandemiebedingt häufig durch Glasscheiben sehen, oder auch mal tagelang gar nicht. Aber wenn, dann durfte ich erleben, was es heißt, wenn jemand bedingungslos da ist. Sich kümmert und mitdenkt. 

Ich weiß nun, wie es ist, wenn das Schlafzimmer nach Quark stinkt, weil Quarkwickel nunmal wirklich effizient sind. Am lautesten gelacht habe ich, als er mich das erste mal „Quarkbällchen“ genannt hat, für ein paar Tage haben wir das Quarkgame wirklich übertrieben – aber hey, es hat geholfen !

Heute, 23.02., gibt er mir vermutlich eine der letzten Thrombosespritzen, denn auch das hat er übernommen. So lange keine Tinte rauskommt, bin ich kein Fan von Nadeln. 

So herausfordernd die letzten Monate auch waren, bin ich dankbar, die Erfahrung einer solchen Unterstützung gemacht zu haben. Wir haben ein paar Grenzen der Intim- und Privatsphäre in einer Beziehung für mich überraschend früh überschritten, unterm Strich hat es uns aber positiv geprägt und nochmal viel über Geduld und Verständnis füreinander gelehrt. 

Und nicht nur die Unterstützung und Beziehung zu meinem Partner, sondern auch die zu meinen Freunden wurde gestärkt. Wenn auch auf unglückliche Art und Weise durfte ich erfahren, auf wen ich mich verlassen kann oder wer da ist. Hier gab es einige Überraschungen, schöne, so wie weniger schöne.

Persönlich am Unfall wachsen / mentale Herausforderungen als Folgen

Diese Woche erst hat mich eine Nachricht einer mir unbekannten Person erreicht: “Sarah, ich muss dich das jetzt mal fragen. Wie schaffst du es, die letzten Monate psychisch zu verarbeiten und so zuversichtlich zu sein, so viel Freude zu verbreiten in deiner Situation?” 

Ich habe vom Moment auf der Trage zum Krankenwagen bis heute viele Einblicke geteilt, bewusst die guten und die schlechten. Tage, die mich in die Knie zwingen wollten, gab es auch viele. Oder besser gesagt Momente. Rückblickend werden es 3 sein, die mir im Gedächtnis bleiben:

  • Der Tag, an dem ich die finale Diagnose erhalten habe und Minuten später schon alle Operationsunterlagen unterschreiben musste, das Anästhesiegespräch unter Tränen alleine führte, von alledem gar nichts mehr verstehen wollte, weil ich so durcheinander war und plötzlich alles so schnell ging, den Termin vereinbarte und noch meinen ersten Coronatest gemacht habe. All das innerhalb von 1,5h hat mich sehr stark herausgefordert. Ich hatte Angst vor dem, was kommt, konkret dem Krankenhausaufenthalt. Und ich war erschöpft von den drei Wochen zuvor, in denen ich schmerzbedingt kaum geschlafen habe. Ich habe mich in ein Taxi gesetzt, bin mit Schmerzen und Gewissheit nach Hause gefahren, habe mich in der leeren Wohnung an den Küchentisch gesetzt und laut geweint bis mir die Kraft ausging.
  • Die erste Operation bzw. die Minuten im Vorraum zum OP-Saal. Als ich schon nackt unter der Wärmedecke lag, mir der Zugang gelegt wurde, nochmal alle Daten gecheckt wurden und ich nur das Piepen der Geräte um mich herum gehört habe. Ich hatte vor sehr langer Zeit eine ähnliche Situation, die mich nachhaltig geprägt und ein Stück weit traumatisierte hat – das kam in diesem Moment wieder hoch und ich habe mich unglaublich verletzlich und allein gefühlt. Hinzu das Wissen, gleich an beiden Füßen operiert zu werden. 
  • Die zweite Operation – selbes Szenario und der erste Versuch, einen Zugang zu legen, ging schief. So wie bei erwähntem Erlebnis auch. Rational begreift man, dass das eine nichts mit dem anderen, die Vergangenheit nichts mit dem Heute zu tun hat, die Psyche bzw. Unser Unterbewusstsein ist aber natürlich eine nicht zu unterschätzende Kraft. Ich hatte das Gefühl, so viele Kämpfe zu führen und war müde von all dem. 

Selbstverständlich gab es noch viele Momente, in denen ich schweigsam war. Wütend auf die Situation. Mich schwach gefühlt habe. In denen ich leise geweint habe. Was ich aber nie gemacht habe: das Warum in Frage gestellt. 

Was mir mein Papa früh schon mitgegeben hat: nicht über etwas ärgern, das nicht in meiner Hand liegt. Niemals. Unter keinen Umständen. Das frisst unnötig Energie. Und so habe ich mir nicht einmal vorgestellt, was hätte sein können. Wie es wäre, wenn. Oder wenn nicht. Nein, ich habe die Situation angenommen, wie sie ist. Von Beginn an, mit größtmöglicher Nüchtern- und Klarheit. Ich habe den Ist-Zustand analysiert und angenommen. 

Ich habe viel Mut und Kraft aus dem Austausch mit der Community rund um grossstadtklein gezogen. Gemeinsam haben wir in der Zeit sogar noch 1700€ an Spenden gesammelt, die ich pünktlich zum 24.12.2020 mittags im Namen aller an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe gesendet habe. Das hat mich nachhaltig mit Wärme und Kraft erfüllt. 

Ganz oft, besonders jetzt, wo es ans Kämpfen geht mit der Physiotherapie, habe ich Momente, in denen ich merke, dass ich kurz vor meiner Grenze bin. Und so oft in den letzten Monaten habe ich mir leise gesagt „komm Sarah, jetzt einfach weitermachen, noch ein Schritt, nur durchhalten“ – und jeder dieser Momente macht mich ein Stück weit aus. Bis zur Physiotherapie war es ein “Warten” – im wahrsten Sinne des Wortes “Füße still halten”. Jetzt muss ich mit der Physiotherapie aktiv ran, und das ist so viel anstrengender als “Warten”. Ich glaube, meine Stärke zeigt sich erst jetzt und ich musste mich ohnehin erstmal mental drauf “einstellen”.

So vieles ist gerade in meinen Beinen nicht mehr dort, wo es hingehört. Die Muskulatur hat auf beiden Seiten stark abgebaut und sich verändert. Mein Gangbild ist ein Desaster, genauso wie mein Fußgewölbe. Plötzlich habe ich X-Beine. Häufig habe ich zu hören bekommen, dass Leute ähnliche Verletzungen an einem Bein hatten, zwei müssten ja so viel schlimmer sein. Ich glaube, man kann das nicht proportional in Relation setzen, dass zwei verletzte Beine doppelt so schlimm sind wie eines. Es ist nicht vergleichbar, meine Meinung. Das ist Leid in meinen Augen generell nie.

Was ich positiv betrachte:

Ich denke, zwischen der ein oder anderen Zeile ist es hier schon deutlich geworden: im wahrsten Sinne hat mich der Unfall noch mal geerdet. Ich bin schon immer ein grundsätzlich dankbarer Mensch. Und obwohl ich noch so viele Wünsche habe, bin ich immer auch zufrieden mit dem, was ich habe. Was passiert ist, ist scheiße. Ohne Frage. Und wenn mir nochmal jemand sagt, dass auf Regen Sonnenschein folgt, rolle ich vermutlich nur noch müde mit den Augen. Aber was ich erfahren habe an Support, dafür bin ich dankbar sowie für die Tatsache, eine umfassende gesundheitliche Betreuung in Anspruch nehmen zu können und in keiner Sekunde wirklich allein gewesen zu sein. 

Ich habe meine Ernährung umgestellt. Zeitweise habe ich mit Ausnahme der Feiertage und Silvester gänzlich auf raffinierten Zucker verzichtet. Habe mich mit Bausteinen meiner Ernährung auseinandergesetzt, Dokumentationen geschaut, versucht zu verstehen, was ich mit Ernährung bewirken oder sogar verhindern kann. Selbst an einem Ernährungsseminar habe ich teilgenommen und in Summe viel gelernt, worauf ich in Zukunft aufbauen möchte. Ich möchte mit mir selbst besser umgehen. 

Das Rauchen habe ich zwar schon zwei Monate vor dem Unfall aufgegeben, und nie daran gezweifelt. Beinahe etwas Stolz habe ich jedoch empfunden, als die Geräte im Krankenhaus eine Sauerstoffsättigung von 100% zeitweise anzeigten. Mehr als ein Jahrzehnt habe ich enorm viel geraucht, in Zusammenhang mit der Gesundheit eine solche Regeneration in Zahlen sehen zu können, hat mich einfach gefreut. Gerade bei kleinen Brüchen oder Verletzungen wie meinen kann das Rauchen die Heilung enorm verschlechtern, auch daher der Wunsch, weiterhin an meine Gesundheit zu denken. 

Der Unfall hat mich körperlich und auch finanziell belastet, gestresst, herausgefordert. Auch mental. Für eine bestimmte Zeit hat er mir das Gehen (und alles, was mit dem Gehen können einhergeht) genommen. Was er mir gegeben hat, ist aber so viel mehr. Und das ist alles, worauf ich mich konzentrieren möchte.

Mit so vielen Menschen bin ich durch dieses Thema in Kontakt gekommen, habe mich ausgetauscht, habe versucht, anderen Mut zu geben. Und habe Kraft und Zuspruch bekommen. Wirklich allein war ich damit zu keiner Zeit. Wenn ich eins gemerkt habe, dann, dass sich darüber austauschen, erzählen und laut denken helfen kann. Dinge auszusprechen. Mal “rauszulassen”.

“Ist doch scheiße.” zu schreien, und weiterzumachen. Denn dass Fluchen helfen kann, ist wissenschaftlich belegt. Davon kann meine Nachbarschaft vermutlich ein Liedchen singen (;

3 comments

Anne Februar 23, 2021 - 4:29 pm

So ein berührender Text. Ich bewundere dich einfach nur dafür, Dinge annehmen und nach vorne blicken zu können. Ich glaube, nicht nur ich hatte das Gefühl, in dieser Hinsicht von dir lernen zu können ❤️

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Frank Berno Timm Februar 24, 2021 - 11:17 am

Was für ein wichtiger Text (mit schönen Bildern auch noch!) Und es bleibt bewundernswert, wie Du mit diesem Einschnitt umgegangen bist und weiter umgehst. Du hast ja auch durchblicken lassen, dass Du schon länger auf diesem Weg bist (Rauchen…). Und das Ergebnis der Spendenaktion ist wirklich der Hammer. Lass Dich mal digital umarmen ….

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Crps.fighter.lisa Februar 24, 2021 - 2:30 pm

Wie wundervoll, und stark!
Diese sehr verwundbaren Dinge mit uns zu teilen!
Das annehmen des IST-Zustandes ist nicht immer einfach, umso wertvoller, dass dein Papa da so einen Wert darauf legte. Allgemein für die erfahrene Unterstützung ist man unglaublich dankbar, einfach weil sie nicht vorauszusetzen ist. Und umso schöner, dass du diese „tolle, intime Erfahrung“ machen durftest! ❤️
Du bist unglaublich stark ???

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